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Neurasthenie

Die Neurasthenie kann man als Vorläufer des Burnout ansehen, und zwar in ihrer Eigenschaft als wahrscheinlich erste „Beschleunigungspathologie“ der Moderne (Poltrum, S.101) und damit ein „geschwindigkeitsinduziertes Krankheitsbild“. Sie entstand am Ende des 19. Jahrhunderts und wurde auch als „amerikanische Neurose“ bezeichnet, weil sie mit der besonderen Lebensweise Nordamerikas in Verbindung gebracht wurde, einer jungen, rasch wachsenden Nation ohne Bindung an Tradition und Religion, „die eine intensive wirtschaftliche Entwicklung durchmachte und eine Lebensweise begünstigte, die sich durch ein gesteigertes Arbeitspensum und eine erhöhte Arbeitslast, eine Zunahme der Lebensgeschwindigkeit und die Verdrängung von Gefühlen auszeichnete.“ (Poltrum, S. 100) George Beard, der „Erfinder“ der Neurasthenie, hat sie als Krankheit des modernen Lebens verstanden, denn sie resultiere aus der Hektik der neuen Zeit, der Industrie und der Großstadt. Sie sei die nervliche Dimension der industriellen Strapazen. (vgl. Ehrenberg, S. 24) Damit trat eine Krankheit auf den Plan, die aus der modernen Lebensweise und nicht aus Degeneration von Persönlichkeiten erklärt wurde: nervöse Erschöpfung. Als Symptome dieser Bezeichnung für eine Gruppe von Störungen wurden genannt: allgemeines Unwohlsein, Funktionsschwächungen, Appetitlosigkeit, Rückenschmerzen, Neuralgien, Hysterie, Schlaflosigkeit, Hypochondrie, Kopfschmerzen, mangelndes Interesse an fortgesetzter (manueller) Arbeit – und all dies ohne organischen Befund. Ende des 19. Jahrhundert bis ca. Mitte der dreißiger Jahre galt Neurasthenie als Modekrankheit in den europäischen Metropolen, und die Diagnose fand erstaunliche Verbreitung. Die funktionale Störung legte den Gedanken nahe, dass man durch das Leben in der Gesellschaft erkranken könne. Erklärt wurde die Epidemie mit Erscheinungsweisen der veränderten Welt: die mit der Verbreitung der Eisenbahn gestiegene räumliche und die soziale Mobilität, die Anhäufung von Reichtum und Luxus, die Rolle der breiten Masse in der Politik, der Niedergang der Religion, die Gifte des modernen Lebens wie Alkohol – kurz: den Phänomenen einer sich durchsetzenden Massengesellschaft. Mit ihr erfolgte eine „Neujustierung des Ich“ (Vgl. Ehrenberg, S. 39–41). Georg Simmel „kennzeichnete den Einbruch des Flüchtigen, Unbeständigen und Transitorischen in die damalige Lebenswelt als die Erfahrung der Moderne.“ (Poltrum, S. 101). Der „rasche(n) und ununterbrochene(n) Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“ bewirke eine „Steigerung des Nervenlebens“ (ebenda). In der Kunst spiegeln sich die Probleme für den einzelnen wider: der Ehrgeiz, den eigenen, individuellen Lebensweg zu beschreiten, sich von Traditionen zu emanzipieren, nicht weiter die Natur zu imitieren. Identitäten werden brüchig und provozieren Ängste. „Die Erschütterung des Nervensystems, die Erschöpfung des geistigen Budgets“ drücken die Anstrengung aus, die es bedeutet, sich auf die gravierenden Veränderungen des öffentlichen und privaten Lebens einzustellen. Freiheit wurde erstmals als Ursache von Nervosität und damit als zumindest ambivalent bewertet. Dabei war es schwer, zwischen exogenen und endogenen Ursachen der Erkrankung zu unterscheiden.

Die „Neurasthenie“ könnte als Paradigma dienen zum Verständnis der psychosomatischen Erkrankung, der die griffige und anschauliche Bezeichnung „Burnout“ verliehen wurde. Eine eher beiläufige Analogie zeigt sich im Modecharakter des Erschöpfungssyndroms: sie ist eine Krankheit von hohem Selbstinszenierungswert. Die Diagnose wird immer häufiger gestellt und ist „attraktiv“ (Poltrum). Denn wer ausgebrannt ist, muß einmal ein Energiebündel gewesen sein und hat sich – in vollendeter Selbstlosigkeit und zum Vorteil aller, so die Suggestion – vollkommen verausgabt.

Aber auch der heutige Strukturwandel des Kapitalismus zeigt eine Analogie an und offenbart sich an Veränderungen in der psychischen Disposition der Subjekte. Mit den individuellen Identitätsformationen infolge der starken soziokulturellen und ökonomischen Wandlungen am Ende des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (und ganz sicher darüber hinaus) haben sich auch die Arten psychischer Erkrankungen verändert: die wachsende Verbreitung von Depressionen und die Zunahme von Antidepressiva und Drogen sind Symptome einer neuen Befindlichkeit der Subjekte in den westlichen Demokratien. (Honneth im Vorwort zu Ehrenberg, S. 7)



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