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Depression

Depressionen, Angststörungen und Erschöpfungszustände sind die hauptsächlichen Kollateralschäden heutiger Arbeitstätigkeit. Burnout ist nicht ohne Depression thematisierbar – sie sind zwei Seiten einer Medaille.

Alain Ehrenberg führt das massenweise Auftreten der Depression auf den zusammen mit der Leistungsgesellschaft geborene Norm zurück, die jeden dazu verpflichtet, er selbst zu werden und persönliche Initiative zu ergreifen. (Ehrenberg, S. 14f.) „Die Depression zeigt uns die aktuelle Erfahrung der Person, denn sie ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismus im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten.“ (Ehrenberg, S. 20) Die allgemeine Emanzipation hat das Individuum führerlos, zum reinen Individuum gemacht, das seine eigenen Orientierungen konstruieren muß, da keine moralischen Gesetze, keine Tradition es zu Gehorsam verpflichtet. Die Dichotomie erlaubt-verboten gilt nur noch rudimentär und hat der Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem Platz gemacht. Diese bringt das Individuum permanent in Entscheidungssituationen. Es scheitert häufig daran, „aus eigenen Antrieben und in vollkommener Selbstverantwortung zu psychischer Stabilität sowie sozialem Ansehen zu gelangen“. (Honneth in: Ehrenberg, S. 8)

Der Depressive ist außerdem erschöpft von dem gesellschaftlichen Imperativ, sich zu exponieren, zu distinguieren und zu profilieren. Das postmoderne Individuum sieht sich dem Gebot ausgesetzt, „etwas ganz besonderes aus seinem Leben zu machen, unendlich viel zu leisten, eine Ich-AG zu werden und im Konkurrenzkampf mit den wenig zur Verfügung stehenden Ressourcen sich selbst und sein Leistungspotential zu steigern, sich zu optimieren und die Bereitschaft zur Selbstausbeutung aufzubringen.“ (Poltrum, S. 97)

Indem er sich auf einen Markfaktor reduzieren läßt, muß er wie jedes andere Produkt beständig um die Erhöhung seines Tausch- und Gebrauchswert bemüht sein. Konkurrenzverhältnisse zu seinen Mitmenschen dominieren gegenüber Verhältnissen der Solidarität und Kooperation. Dieser Druck zur Selbstbehauptung verlangt ständige Bewegung und wird von vielen Menschen als Belastung und Anspannung empfunden, der sie nicht dauerhaft gewachsen sind. Der seit ca. seit Mitte der 80er Jahre herrschende „Imperativ, besonders und einzigartig zu werden, führt zur Kapitulation und Erschöpfung vor diesem permanenten Anspruch.“ (Poltrum, S. 97)

Depressionen sind das Gegenteil dessen, was der Zeitgeist schätzt: Der Depressive hat keine Energie, seine Bewegungen sind verlangsamt, seine Sprache ist schleppend. Mit seiner Gehemmtheit, Impulsivität oder Zwanghaftigkeit kommuniziert er schlecht mit sich selbst und mit anderen. Mit seinem Mangel an Projekten, Motivation und Kommunikation ist der Depressive das genaue Negativ zu den Normen unserer Sozialisation. (vgl. Ehrenberg, S. 306)

Helmut Rosa sieht in der Depression eine „Pathologie der Beschleunigung“ (Rosa, S. 81-84): Die Erkrankung nimmt in dem Maße zu, wie das Tempo des Lebens steigt. Der Depressive kann damit nicht Schritt halten und verfällt in Starre. Mit seiner Denkhemmung, Denkverarmung und Fixierung auf die Gegenwart wird er unfreiwillig zum Bremser der Gesellschaft. (vgl. Poltrum, S. 95) Auf seine passive Art wirft er sein Gewicht in die Wagschale der Entschleunigung und Verlangsamung gegenwärtiger Prozesse. Einem zuviel an Positivität und Aktivität setzt er symbolisch in seinem Versagen ein Zuviel an Passivität und Negativität entgegen.

Historisch neuartig ist, daß vermehrt jüngere Menschen von Depressionen befallen werden. Diese psychische Erkrankung scheint die Rückseite der Entfaltung von (jugendlicher) Energie zu sein, die Schwierigkeiten hat, sich produktiv zu entfalten angesichts der Gewißheit, daß „jede mögliche Beziehung, in die hinein sie investiert werden könnte, transitorisch, vergänglich und daher nicht identitätskonstituierend sein wird“. (Ehrenberg 1999, S. 250, zitiert nach Rosa, S. 388) Der Depressive reagiert mit „Seelenähmung“, mit gleichsam künstlicher Trägheit, Öde und Leere bei gleichzeitiger innerer Rastlosigkeit auf die „Unfähigkeit der Seele, ihre Energie auf ein festes, beständiges, für lohnenswert erachtetes Ziel zu richten und tatkräftig zu entfalten“. (Rosa, S. 388)

Han sieht die „Bindungsarmut, die charakteristisch ist für die zunehmende Fragmentierung und Atomisierung des Sozialen“ und den omnipräsenten Leistungsdruck als Ursachen für den epidemischen Charakter von Depressionen in der postindustriellen Gesellschaft an. (Han1, S. 22) „Der depressive Mensch ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge. Es ist Täter und Opfer zugleich.“ (Han1, 23) Er könnte der letzte Menschentyp sein, der nur noch arbeitet, bei dem jedwede Tätigkeit zu „Arbeit“ - geadelt oder herabgewürdigt – wird. „Nicht-Mehr-Können-Können führt zu einem destruktiven Selbstvorwurf und zur Autoaggression. Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg. Der Depressive ist der Invalide des internalisierten Krieges. Die Depression…spiegelt jene Menschheit wider, die mit sich selbst Krieg führt.“ (S. 24)



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