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Der Individualismus:



Themen:
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Leistungssubjekt und Freiheit

Im 21. Jahrhundert wird der Übergang von der Disziplinar- resp. Industrie- und Massengesellschaft hin zur Leistungs- resp. Informations- und Individualitätsgesellschaft vollendet. Einstige Disziplinarsubjekte werden zu Leistungssubjekten. Sie sind Unternehmer ihrer selbst in einer Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors, welche heute die architektonische Landschaft der Arbeitswelt in einer Weise prägen, wie es zu Zeiten der Disziplinargesellschaft die Fabriken taten (vgl. Han1, S. 19). „Das entgrenzte Können ist das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft. Sein Kollektivplural der Affirmation Yes, we can bringt gerade den Positivitätscharakter der Leistungsgesellschaft zum Ausdruck. An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.“ (Han1, S. 20) Sie schafft Infarkte, die „durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind“ (Han1, S. 7).
Das Leistungssubjekt birgt den großen Vorteil, ohne äußeren Druck gehorsam und diszipliniert zu sein. Es zweifelt die Forderungen, die die Arbeitsgesellschaft an es richtet, nicht mehr an. „Die Positivität des Könnens ist viel effizienter als die Negativität des Sollens.“ (Han1, S. 21)

Das Verschwinden der disziplinierenden Instanz und des Gehorsamssubjekts ist nicht gleichbedeutend mit einer Steigerung der Freiheit. Vielmehr fallen heute Freiheit und Zwang zusammen.
„So überläßt sich das Leistungssubjekt der zwingenden Freiheit oder dem freien Zwang zur Maximierung der Leistung. Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung. Diese ist effizienter als die Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher. Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar. Diese Selbstbezüglichkeit erzeugt eine paradoxe Freiheit, die aufgrund der ihr innewohnenden Zwangsstrukturen in Gewalt umschlägt. Die psychischen Erkrankungen der Leistungsgesellschaft sind gerade die pathologischen Manifestationen dieser paradoxen Freiheit.“ ( Han1, S. 24f.)
In der heutigen Zwangsgesellschaft der Arbeit und Leistung führe jeder sein Arbeitslager mit sich, in dem er Gefangener und Aufseher, Opfer und Täter zugleich sei. So beute er sich selbst aus. Und mit kaum zu überbietender Drastik schätzt Han ein, daß die neuronalen Störungen des spätmodernen animal laborans, also Depression, Bournout und Borderline-Persönlichkeit, den Symptomen von „Muselmännern“, also KZ-Häftlingen in der Agonie des Endstadiums, ähnelten. (Han1, S. 37f.)

Ein Zuviel an Freiheit wird vom einzelnen nicht selten als Bedrohung empfunden. Reduziert sich Freiheit auf Wahlzwang, löst sie Angst aus. „Die große Freiheit der immer neuen Chancen strengt uns heute an.“ (Baumgartner, S. 19)
Angst sei zum bestimmenden Affekt der Moderne geworden, da jeder seines Glückes eigener Schmied sein soll – die Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens lastet allein auf dem Individuum. Im Freisetzungs- und Individualisierungsprozeß haben sich die Wahlmöglichkeiten multipliziert und ängstigen mit „verpaßten Chancen“ das ICH: womöglich trifft man die falsche Wahl. So beschreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer das Dilemma zwischen Freiheit und Scheitern, vor dem heute v.a. viele Berufsanfänger stehen (Schmidbauer, Angst, S. 53)

Ergebnis ist ein Zustand der Unfreiheit inmitten und trotz/wegen aller möglichen Freiheiten, die uns gegeben sind, der sich zu einer existenzielle Krise ausweiten kann. Er wird als eine zehrende innere Leere empfunden, die ständig einen Kick erfordert, um sie zu ertragen – das Gegenteil von Gelassenheit. Je größer der Streß der Ungebundenheit, desto geringer die Freiheit.
Die Gewalt, von der Han spricht und in die Wahlzwang, Leistungsdruck und allgemeine Unsicherheit umschlagen können, drückt sich heute unter anderem in Mobbing, Aggression und Autoaggression wie Depressivität aus.

Besonders schwer hat es die heutige „Generation Praktikum“. Die nachwachsende Generation steht unter dem permanenten Druck, „cool“ wirken zu müssen, dabei ist sie kaum in der Lage, alle Informationen auf ihren Smartphones und alle verpaßten Anrufe zu kontrollieren. „Diese Generation lebt stets am Rande des Burnouts. Die Unsicherheit der Berufe, die permanente Neuorientierung sorgen für Streß, der den Protagonisten den Schlaf raubt. Trotz Studium, Praktika und besten Referenzen bleibt die Zukunft unklar.“ (Baumgartner, S. 20) Da ist nur ein Bauen auf kurzfristige Perspektive möglich:
„Befristete Arbeitsverträge, leistungsorientierte Bezahlung, wachsende Boni-Anteile am Gesamtgehalt, Zusatzvereinbarungen, die in eng getakteten Zeiträumen die Arbeitsqualität überprüfen, sind Beispiele dafür.“ (Baumgartner, S. 21) Die Berufsanfänger bleiben auf dem Sprung, müssen immer offen sein für Neues, aber diese Dauerkonfrontation mit Neuem ist kaum auszuhalten. Einfacher als ständige Bereitschaft sich zu behaupten und neu zu erfinden, ist es, sich zu inszenieren, z.B. bei Facebook. Die zu Mobilität und Flexibilität Gezwungenen schützen sich durch eine unverbindliche Haltung gegenüber emotionalen Beziehungen: schnelle, pragmatische Kombinationen werden bevorzugt, das Internet und die virtuellen Netzwerke sind die technische Entsprechung dieser Bedürfnislage. (vgl. ebenda)



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