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Der Individualismus:



Themen:
Leistungssubjekt und Freiheit
Atomisierung
Narzissmus
Selbstoptimierung


Atomisierung

Den neuen, postmodernen Zustand, in den das Individuum geraten ist, charakterisiert Han als „Bindungsarmut“ und „Atomisierung des Sozialen“ (Han1, S. 22). Er steht für den „Hinauswurf“ des Menschen aus Konstellationen der Sicherheit, der immerzu eigene Optionen zur Lebensführung fordert. Biographische Selbstentwürfe müssen immer wieder überholt und angepaßt werden.
Tradierte Sozialverbände wie Vereine und Parteien dienen nicht mehr der Identifikation, sind klassisch-modern. Die Außenwelt wird nur noch dann zum Bezugspunkt der spätmodernen Individuen, wenn dieser Bezug seinen Bedürfnissen entspricht, ihm Vorteile bringt. „Wir erleben eine gesellschaftlich-narzisstische Entwicklung, die eine Folge des Verschwindens der einst stabilitätsstiftenden Balance zwischen sozialer oder öffentlicher und personaler oder privater Identität ist.“ (Baumgartner, S. 22)

Auf dem einzelnen liegt gegenwärtig eine stärkere Last als früher. Ständige Neujustierung und Aufmerksamkeit werden ihm abverlangt. Die beständige Spannung zwischen Möglichem und Verpasstem stresst. Sich von einem individuellen und stabilen Wertesystem leiten zu lassen, wird immer schwerer aufgrund der allgemeinen Orientierungslosigkeit. Überlieferung bestimmt nicht mehr den Referenzwert unserer Zeit. Traditionen, Gewohnheiten stehen beständig auf dem Prüfstand. Das Individuum muß sich selbst verorten in einer small, flat world der Globalisierung. Menschen ohne Führung und Einbindung sind gezwungen, sich eine eigene Orientierung zu konstruieren, bei der Normen, Verbote, Gesetze, Überlieferungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Markt und Medien geben heute Normen und Werte vor.

Es ist die diesem Gesellschaftssystem „innewohnende systemische Gewalt, die psychische Infarkte hervorruft“. (Han1, S. 22) Der Verlust des Glaubens, nicht nur an Gott und ein Jenseits, sondern an die Realität selbst, macht das menschliche Leben und die Welt radikal vergänglich. Nichts verspricht Dauer und Bestand. „Angesichts dieses Mangels an Sein entstehen Nervositäten und Unruhen.“ (ebenda, S. 35) Die postmoderne, globalisierte Struktur hält für uns eine pausenlose Attacke der Anforderungen bereit (Mobilität, Wandlung, Auflösung tradierbarer Lebensmuster). Vom „Unbehagen des Menschen in einer Zeit ohne Heimstatt, ohne Geborgenheit“ schreibt Baumgartner (S. 12) und erinnert damit an Georg Lukacs’ Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“.

Man könnte von einer „Entbergung“ der Menschen sprechen, von ihrer Vertreibung aus ihrer mentalen, psychischen Heimat, von seelischer Unbehaustheit: Die Welt ist kein behaglicher Ort, weil „Behaglichkeit“ lokal geschaffen wird, in überschaubaren, strukturierten, transparenten Räumen. Die Welt ist ein anstrengender Ort, an dem dauerangespannte Menschen krampfhaft um Glücksgefühle und Sicherheit kämpfen. Mit dem Wegfall traditioneller Gemeinschaften wie an einem Ort lebenden Familien oder Dorfgemeinschaften ist das letzte Bollwerk gegen die Zumutungen, die Übergriffe der (leistungs-)fordernden Umwelt verloren gegangen. Jeder muß nun für sich ums Überleben, um Anerkennung kämpfen. Und nichts wird ihm mehr geschenkt. Alles muß er sich erarbeiten, erstreiten, nehmen, erzwingen. Er pendelt permanent zwischen Selbstverteidigung und Angriff: ein Leben im Hyperstreß. „Es liegt nahe, daß man sich selbst am ehesten vertraut, wenn man die Frage nicht beantworten kann, wohin man im Orbit der historischen Zeit gehört.“ (Baumgartner, S. 19)

Für die heute Lebenden gibt es nur noch den großen Weltenraum einerseits und den kleinsten Raum, das Paar oder die Kleinfamilie andererseits. Das Wegfallen des „Zwischenraumes“, der Vermittlung beider, überfrachtet den privaten Raum mit Bedürfnissen und Erwartungen, die ihn überlasten – der Partner muß zuviel leisten, zu viele Defizite ausgleichen.
„Die brüchig gewordenen Grundlagen der Arbeitswelt (hohe Flexibilität, Einbezug des Wandels) und die erodierten Beziehungen zu politischen und religiösen Verbänden werfen den Menschen zurück auf sich selbst.“ (Baumgartner, S. 20)
Bereits 1986 bemerkte der Zeitdiagnostiker Ulrich Beck hellsichtig, dass in der „Risikogesellschaft“ ein Individualisierungsschub durch Herauslösung aus den Lebensformen traditionellen Ursprungs erfolge. Neue Verhaltensweisen resultieren aus dem Erleben eines Verlustes der traditionellen Sicherheiten (Beck, S. 206)

Eine Folge davon ist, daß das Anerkennungsbedürfnis auf nahezu nicht mehr zu befriedigende Weise ansteigt, denn der einzelne muß sich beständig seiner selbst vergewissern, und dazu braucht er seine Mitmenschen. Anerkennung, Achtung und Bestätigung sind zu einem knappen Gut geworden. Kränkungen und Frustrationen sind heute schlechter verarbeitbar und integrierbar als in Zeiten, da der einzelne noch einen stabilen Platz in einer sozialen Gemeinschaft inne hatte, der ihm eine gewisse Sicherheit und ein Selbstvertrauen verlieh, das er nicht erst durch Leistung erarbeiten mußte. Die wachsende Aggressivität zwischen den Menschen hat also entscheidend mit Verletzbarkeit und Frustrationen zu tun, die nur noch geringem Maße kompensierbaren sind.

Kompensationen für die soziale Entwurzelung werden außer in der Partnerschaft auch in der Internet-Community gesucht: Virtuelle Gemeinschaften sollen die fehlenden sozialen Gruppen der 1. Welt ersetzen, „Rettungsboot“-Freundschaften Halt schaffen. Aber meist entpuppen sie sich als flüchtige, nicht belastbare Netzwerke, in denen die Unverbindlichkeit fortgesetzt wird, die aus Angst vor Kränkungen aller Art auch die Beziehungen in der 1. Welt prägen.
„Tausende von kleinen Satelliten sind unterwegs in einem Raum ohne Bodenstation…Sie funken kleine Signale in den Raum und warten auf ein Echo.“ (Baumgartner, S. 17)



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